Textatelier
BLOG vom: 22.07.2006

Boulevard de Clichy: Die Reize eines Schulwegs in Paris

 
Autorin: Rita Lorenzetti
 
Das kurze Gewitter war nur eine sanfte Abkühlung, mehr nicht. Aber es flossen nachher den Randsteinen entlang kleine Bäche. Hoppla! Menas rechte Sandale war gerade untergetaucht. Selbstverständlich musste die linke folgen. Ein fragender Blick zu mir. Keine Rüge. Jetzt ging es erst recht los. Jede neue Möglichkeit, mit beiden Schuhen ins Nasse zu treten, wurde von dem kleinen Mädchen ausgeschöpft. Der Kräuterpfarrer Sebastian Kneipp wäre sicher mit uns einig gewesen, dass diese Abkühlung an den Füssen genau die richtige war.
 
Auf dem Schulweg via den Boulevard de Clichy gibt es für ein Kind allerhand zu erleben. Da sind die Tauben, die nach Brosamen suchen und auffliegen, wenn Mena ihnen nachrennt. Es sind die Mäuerchen, welche die Rabatten mit den Büschen abgrenzen, die erstiegen und seiltänzerisch begangen werden müssen. Und dann an der Place Blanche die Abluft, die aus der Metro aufsteigt. Da will Mena jedes Mal aufs Gitter klettern und dort oben ihre Runden drehen. Der Luftstrom von unten wirbelt dann ihre Locken frech umher.
 
Mena ist ein Wirbelwind, fängt alle Reize dieses Wegs auf. Ihr Interesse gilt auch den grossen Autocars und deren Beschriftungen. Grosy (die Grossmutter) sollte dies auch sofort sehen und kommentieren können. Das gelingt nicht immer.
 
Wir müssen jeweils mehrere Strassen überqueren. Dazu ist mir ein Takt-Vers eingefallen. Sobald Grün aufleuchtet, gehen wir los und sagen „Eis, zwei, drü vier, jetzt chömed mier“ (Eins, zwei, drei, vier, jetzt kommen wir). Auf diese Weise gelangen wir gradlinig und vor allem zügig ans andere Ufer.
 
Klar, so kann der Schulweg im Alltag nicht jeden Morgen ausufern. Es ist das Vorrecht der Grosseltern, dass sie mehr Zeit und mehr Flexibilität haben und manches zulassen können, was jungen Eltern verwehrt ist. Auch sie müssen einen Stundenplan erfüllen, müssen oder wollen arbeiten. Ihre Zeit ist beschränkt. Ich bewundere sie, wie sie das schaffen. Der Stress ist zwar ihr Motor, doch bemerke ich bei der Übergabe der Kinder im Sommerhort grosse Behutsamkeit.
 
Das Leben von Vätern und Müttern ist ein anderes geworden. Die Familien von heute stellen grössere Ansprüche an die Gesellschaft, erwarten Unterstützung von ihr. Das stellen vor allem Grosseltern fest.
 
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